Auf einmal müssen Zahlungsziele angeboten werden: Die Krise bringt zum Ausdruck, wie überlebenswichtig eine sorgfältige und langfristige Liquiditätsplanung für Unternehmen ist und wie schnell die eigene Liquidität rar werden kann, wenn die äusseren Umstände nicht mehr so stabil sind.
Marc Meier: Herr Angehrn, Sie haben sich im Spätsommer 2019 mit der Mission selbstständig gemacht, Kleinunternehmen die finanziellen Tools, Tipps und Tricks zur Verfügung zu stellen die bis anhin Grosskonzernen vorbehalten waren, um sie damit nachhaltig erfolgreicher zu machen. Dabei geht es bei Ihrem Tool in erster Linie um eine langfristige Liquiditätsplanung. Was ist Ihre Erfahrung hinsichtlich einer solchen Liquiditätsplanung in Unternehmen? Denkt ein durchschnittliches mittelständische Unternehmen überhaupt an eine ausreichende Liquiditätsplanung?
Tobias Angehrn: Meine Erfahrung ist, solange es bei einem Unternehmen gut läuft, verzichten viele Unternehmen auf eine langfristige Liquiditätsplanung. Die Krise lehrt uns allerdings die Folgen.
Hierzulande vertrauen viele Unternehmer bei der Liquiditätsplanung noch stark auf ihr Bauchgefühl. Das heisst, man schaut auf‘s Konto, schaut wie viel reinkommt, wie viel rausgeht und schätzt ab, ob es reicht. Solange das Gefühl nicht aufkommt, in einen Engpass zu gelangen, machen die Wenigsten eine Planung. Und das ist auch irgendwie verständlich. Keiner ist Unternehmer geworden, um sich mit Excel-Tabellen auseinander zu setzen. Solange das Unternehmen über Jahre stabil ist, kann man schon gut einschätzen, was rein geht und was raus geht. Kritisch können Situationen wie beispielsweise plötzliches, starkes Wachstum oder Grossaufträge sein. Dann muss man zunächst neue Mitarbeiter einstellen, die sich erst einarbeiten müssen und den Umsatz womöglich nicht so schnell bringen, wie man es sich vorgestellt hat. Zudem benötigt das Wachstum je nach Geschäftsmodell zunächst einmal zusätzliche Liquidität, beispielsweise für den Einkauf von zusätzlichen Materialien, etc. Aber vor allem in der Krise, als sich die äusseren Umstände geändert haben, wurde die Notwendigkeit eines Cash-Flow Managements für die meisten Unternehmer deutlich spürbar.
Vor allem viele kleinere Unternehmen, bis 50 Mitarbeiter, machen gar keine Planung- oder nur kurzfristige Planungen. In meiner früheren Tätigkeit bei einem Finanzierer habe ich leider zu oft miterlebt dass sich viele Unternehmen erst um die Themen Liquiditätssteuerung und Finanzierung kümmern, wenn es zu spät ist- auf gut Deutsch das Haus bereits lichterloh brennt. Teilweise ist dies auch bei grösseren Unternehmen noch der Fall. Dann gibt es auch Unternehmen, die machen zwar eine Budgetplanung, aber schenken dabei der zeitlichen Dimension zu wenig Beachtung. Teilweise werden dabei auch Cash Flow mit Gewinn durcheinandergebracht. Ich denke, hier könnten wir viel vom angelsächsischen Raum lernen. Dort sind die Themen Cash Flow Management und Proaktives Finanz-Management viel weiter als hierzulande- auch in Kleinbetrieben.
Erfreulich ist, dass diesbezüglich gerade bei jüngeren Unternehmern ein ein Wandel erkennbar ist. Viele Unternehmer wollen nicht mehr nur ihr Geschäft, sondern auch ihre Finanzen genau verstehen.“
Marc Meier: Sie sprachen soeben davon, dass der angelsächsische Raum bei Langfristplanungen eine Vorbildfunktion für uns einnimmt. Hat im angelsächsischen Raum dann die Buchhaltung an sich einen anderen Stellenwert?
Tobias Angehrn: Viele Schweizer Unternehmen schauen hauptsächlich auf dem Gewinn. Im angelsächsischen Raum fokussiert man sich viel stärker auf den Cash Flow- und zwar von Beginn an. Wie verändert sich meine Liquidität über die Zeit? Mit dem Gewinn zahlt man keine Rechnungen. Der Cash Flow ist nicht zuletzt deshalb auch ein großer Faktor bei der Unternehmensbewertung. Wenn ich also irgendwann mal das Unternehmen verkaufen will, dann schadet es nicht, sich an die Discounted Cash Flow Methode zu erinnern. Man schaut eben nicht mehr nur, wie viele Assets die Firma hat, sondern vor allem wie viel Cash Flow aus diesen Assets generiert werden kann. Allerdings will ich damit nicht sagen, ob es wirklich gesund ist, nur den Unternehmenswert zu steigern, aber das Bewusstsein, dass es nicht Zufall ist, wie es um ein Unternehmen steht und wie sich ein Unternehmen entwickelt, das ist mir besonders wichtig. Und nicht zuletzt sollte man die Einsicht haben, dass proaktives Handeln unabdingbar ist. Es mag zwar banal klingen, aber es gibt nichts Wichtigeres als seine eigenen Zahlen zu verstehen, Kostenoverheads frühzeitig zu erkennen und die Performance seines Unternehmens im Branchenvergleich einschätzen zu können.“
Marc Meier: Wie Sie selbst sagen, ist es für KMU immer wichtiger, die richtigen Kennwerte zu erheben und diese richtig zu analysieren. Gerade Krisenzeiten benötigen eine schnelle und solide Entscheidung, um basierend auf Fakten die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Was ist notwendig, damit kleine und mittelständische Unternehmen jederzeit über die wichtigsten Informationen über ihre Finanzentscheide verfügen können?
Tobias Angehrn: Das Wichtigste ist, dass KMU ihre Buchhaltung aktuell halten- egal ob nach Gefühl, mit Excel oder mit einem digitalen Tool. Das Problem ist, dass in vielen KMU die Mentalität, dass Buchhaltung etwas für den Steuerberater ist, der es einmal im Jahr macht, vorherrschend ist. Mittlerweile gibt es sehr Anwender freundliche, Cloud basierte Lösungen, die immer mehr Unternehmen für ihre Real- Time Buchhaltung nutzen. Damit sehen sie sofort, was sie an außenstehenden Debitoren haben, was für Aufträge kommen, etc.
Marc Meier: Das klingt so, als käme der Buchhaltung eine Schlüsselrolle zu, die erst wiederaufgelebt werden müsse. Aber brechen wir es mal auf die Details runter. Was ist Buchhaltung in ihrem Verständnis?
Tobias Angehrn: Buchhaltung heisst nicht mehr nur die Vergangenheit abzubilden, es ist vielmehr ein richtiges Führungstool. Wenn ich meine Zahlen richtig verstehe, weiß ich genau, wo ich ansetzen muss, um nachhaltig erfolgreich zu sein und nachhaltig wachsen zu können. Genau da unterstützt ja beispielsweise auch Factoring im Bereich Working Capital. Working Capital ist nach wie vor einer der Hauptkiller für Unternehmen, die schnell wachsen wollen. Wenn man seine eigenen Zahlen nicht versteht oder diese nicht Up To Date hat, ist es ein großes Risiko für den Bestand der Unternehmung.
Marc Meier: Welche Kennzahlen sollten Ihrer Meinung nach unbedingt stets im Blick behalten werden?
Tobias Angehrn: Dies kann man auf einige wenige begrenzen. Besonders wichtig ist natürlich zu wissen, wie sich mein Betriebskapital relativ zum Umsatz entwickelt. Oft ist es so, dass sich das Umsatzwachstum irgendwo erkauft wird, man Abstriche bei den Margen macht, oder längere Zahlungsfristen gewähren muss. Das kann unter Umständen gefährlich werden. Ferner ist es sehr wichtig zu wissen, wie es um meinen Liquiditätsgrad steht, insbesondere um den Liquiditätsgrad II, in dem die Forderungen einbezogen sind. Ist dieser langfristig gesund? Seine eigenen Zahlen nicht aus den Augen zu verlieren- darauf kommt es sicherlich an.
Marc Meier: Vielen Dank für diese spannenden Informationen.
Gestartet hat Tobias Angehrn seine berufliche Karriere klassisch im Banking mit einer Lehre bei Raiffeisen. Später war er im internationalen Firmenkundengeschäft bei Credit Suisse mit Stopps in Basel und Singapur tätig. Später hat er berufsbegleitend Betriebswirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz und an der Universität Zürich studiert. Nach Abschluss des Studiums hat er zwei Jahre bei einem mehrfach ausgezeichneten Fintech Startup in Zürich und Berlin verbracht. Vor rund einem Jahr hat er sich selbstständig gemacht, ursprünglich mit finwize, einer klassischen Beratung, aber bereits dort mit dem klaren Ziel, den Unternehmen eine technische Lösung bereitstellen zu können.
Seit Februar 2020 ist Tobias Angehrn Mitinhaber und Mitgründer von TRESIO, einem Finanzplanungstool für kleine und mittelständische Unternehmen. TRESIO hat das Ziel, anhand von Kundendaten, wie Budgetzahlen, offenen Debitoren- bzw. Kreditorenrechnungen, der aktuellen Liquidität, wiederkehrenden Kosten, erwarteten Umsätzen oder bestehenden Kreditlimits einen Forecast für die nächsten 12 Monate zu machen, wohin sich das Unternehmen entwickelt. Gerade für junge Unternehmen, die schnell wachsen wollen, ist das Thema das Liquiditätsplanung essentiell. Aber auch für große Unternehmen mit 100 bis 500 Mitarbeitern, die teilweise Niederlassungen im Ausland haben und ein effizientes Tool benötigen, mit dem sie alle Standorte konsolidiert betrachten können, bietet sich TRESIO an. Zusätzlich ist Tobias Angehrn regelmässig als Ambassador und Coach für die Crowdfunding-Plattform Crowdify unterwegs.